Der Dalai Lama war nicht in Wacken
von Jutta Ditfurth
Frankfurt/Main, den 5.8.2009
Verglichen mit dem Auftritt des Dalai Lama in Frankfurt/Main und der unterdrückt-aggressiven Hysterie seiner Anhänger ist das jährliche Heavy-Metal-Festival im schleswig-holsteinischen Wacken ein Hort der Sanftheit, Freiheit und Emanzipation. Der Dalai Lama war in Frankfurt/Main und 50000 lagen zu seinen Füßen, Promis buhlten um Privataudienzen. Einnahmen: 1,75 Millionen Euro plus Spenden und Eso-Kommerz. »Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus…« schrieben Marx und Engels 1845 und sie hatten Recht.
Die Aussagen des Dalai Lama besitzen die Präzision eines Horoskops: Irgendwas passt immer, jedenfalls sofern man den kritischen Verstand ausschaltet. Dazu sind zehntausende deutscher Mittelschichtler ohne Skrupel bereit. Warum?
1987 war ich in Tibet. Ärmste, offensichtlich mangelernährte gläubige Tibeter krochen demütig auf dem Bauch durch den Dreck vor den Tempeln, während Touristen die Edelsteingeschmückten goldenen Statuen der Paläste anhimmelten. Die soziale Lage der Tibeter war ihnen völlig gleichgültig. Es ging nur um ihr »spirituelles Heil«. In einem Kloster sah ich Dutzende von tibetischen Kindern, wie hospitalisiert schaukelnd, stundenlang im Halbdunkel und bei stinkenden Yakbutterlampen, Sprüche von Tafeln ablesen, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Das nannten die Mönche »Ausbildung«. So zerstört man Gehirne.
»Was ist« fragte ich einen leitenden Mönch, »wenn eines dieser Kinder eines Tages doch anders leben will, vielleicht in eine Schule gehen und studieren?« Seinen Zynismus werde ich nie vergessen. Er sagte, dass sie sich aus den tibetischen Familien die viel versprechendsten Kinder holen, im Alter von vier bis fünf Jahren. So hält man sich die weltliche Konkurrenz vom Hals. Da es für die meist sehr armen Eltern von hohem Prestige war (Karma! Karma!), wenn eines ihrer Kinder auserwählt wurde, würden die Kinder aus ihren Familien verstoßen werden, falls sie fliehen. Der Mönch grinste selbstzufrieden als er hinzufügte, dass die Jungs ja auch kein Geld hatten und keine Schuhe. »Wie soll so einer über die hohen Berge die Tibets fliehen – ohne Nahrung und barfuss durch den Schnee?«
Die soziale Lage der Tibeter ist den Anhängerinnen des Dalai Lama nicht nur vollkommen egal – sie verlangen sogar die »Bewahrung der tibetischen Kultur«. (Das fordert auch die Linkspartei). Woraus bestand diese »Kultur«?
Unter der Herrschaft des Dalai Lama und seiner Vorhänger lebten 95 Prozent der Tibeter in Leibeigenschaft, tyrannisiert von Adel und Kirche. Tibet war eine feudalistische Sklavenhaltergesellschaft. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gab es keine Prise Demokratie. Hände abhacken bei Diebstahl, Folter vielfältiger Art bei oppositionellem Verhalten, Gefängniszellen in den Klöstern. Von der abgrundtiefen Frauenverachtung ganz zu schweigen. Aber auch die Sozialgeschichte Tibets interessiert die Dalai Lama-Besoffenen nicht.
Im indischen Exil des Dalai Lamas wird noch heute abweichendes, kritisches Verhalten bestraft. Es herrschen Angst und Anpassung. Die deutschen Untertanen lieben Begriffe wie »Seine Heiligkeit« und »Seine Exzellenz«. Manche unserer Großeltern hätten geglaubt, Kaiser Wilhelm II. ist zurückgekehrt (Wiedergeburt!).
Von seltsamer Gleichgültigkeit bleiben die Dalai-Lama-Gläubigen auch gegenüber der Zusammenarbeit des Dalai Lama und seiner Familie in (seit?) den 1950er Jahren mit der CIA. Bis heute gehört es zu den geostrategischen Interessen der USA, die westliche Staatsgrenze Chinas in Frage zu stellen. Aber völkerrechtlich gehört Tibet zu China so wie Bayern zur Bundesrepublik. Für die Grenzaufweichung wird der Dalai Lama gebraucht, als eine Art »kalter Krieger«. Aber angesichts der starken Stellung Chinas gegenüber den USA in der Weltwirtschaftskrise müssen die USA zur Zeit ein bisschen vorsichtiger agieren. Vielleicht gibt es deshalb hie und da endlich ein paar kritische Töne, z.B. im stern, der wie der Spiegel jahrelang dem Dalai Lama gehuldigt hat?
Gleichgültig sind die deutschen Dalai-Lama-Fans auch gegenüber den nachgewiesenen jahrzehntelangen freundschaftlichen Kontakten des Dalai Lama zu Nazis (SS-Oberscharführer Heinrich Harrer), Rechtsextremen (Jörg Haider, Miguel Serrano) und Shoko Asahara, dem Anführer der giftgasmörderischen AUM-Sekte. Von den engen Beziehungen Lhasas zu Himmlers SS-Ahnenerbe (NS-Tibet-Expedition auf der Suche nach einer arischen Elite) hat sich der Dalai Lama nie distanziert.
Er ist ein raffinierter Diplomat und kennt seine Jünger aus den Zentren des Kapitalismus genau, ihre soziale Ignoranz und ihre Sucht nach kritikloser Gläubigkeit, Hauptsache sie haben ein gutes Gefühl. Das Nützliche am lamaistischen Buddhismus, wie an den meisten Religionen, ist, dass sie privilegierten Menschen und Herrschaftsstrukturen Absolution erteilen. Oben bleibt oben und unten unten. Kein Widerstand, keine soziale Befreiung, nicht die kleinste Revolte. Auf's Jenseits vertröstet. Alles ist Karma, auch Profit und Erfolg. Wie äußerst nützlich ist diese Ideologie in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und Massenverelendung!
Bevor nun die organisierten AnhängerInnen des Dalai Lama ihre üblichen stereotypen Schmähbriefe losschicken (ihr Mantra: Alle Kritik am Dalai Lama wird von der chinesischen Regierung bezahlt!) noch eins: Man kann den Dalai Lama, seine Kirche und seine besessenen Groupies kritisieren UND die inhumane Diktatur der chinesischen Regierung – unter der übrigens auch andere Chinesen leiden.